11. Internationales DVSM-Nachwuchssymposium – „Strategien gegen die ästhetisch-kulturelle Abwertung der Frau: Gender Studies in der Musikwissenschaft“

vom 2.-5. Oktober 1996 an der Humboldt-Universität zu Berlin 

Sind die Gender Studies als musikwissenschaftlicher Forschungsbereich im angloamerikanischen Raum bereits weit verbreitet und in gewissem Maß sogar schon so sehr etabliert, daß eine respektable Publikationsliste von jungen MusikwissenschaftlerInnen (die männlichen Kollegen miteingeschlossen) u.a. ein gender piece enthalten sollte (so eine Anekdote von Annegret Fauser), so stellen sie im deutschsprachigen Raum dagegen noch immer nur ein (kritisch beäugtes) Randgebiet unter anderen dar, und ihre Präsenz geht an der Durchschnittsuniversität nicht über vereinzelte Lehrveranstaltungen hinaus. (Daran konnte auch die jüngst gegründete Sektion Frauen- und Geschlechterforschung der insbesondere den etablierten Kreis des Faches vereinenden Gesellschaft für Musikforschung bisher nichts ändern.) Um das Defizit auszugleichen, veranstaltete die Berliner Sektion des DVSM vom 2.-5. Oktober 1996 an der Humboldt-Universität zu Berlin das alljährliche DVSM-Symposium. Diesesmal unter dem Generalthema Gender Studies. Geschlechterrollen und ihre Bedeutung für die Musikwissenschaft.

Gender Studies in bezug auf Musik fordern ein, sich der engen Verflechtung von außermusikalisch-soziologischen Umständen mit innermusikalischen Verfassungen und Entwicklungen zu stellen: Beobachtungen wie diejenigen von Michel Edwards, Nanni Drechsler und Christina Zech bestätigen dabei implizit die bereits wohl vertraute These, daß die traditionellen Geschlechterrollen, die sich erst im 19. Jahrhundert verfestigt haben, im Aufbruch begriffen seien: Christina Zech zeigte, daß innerhalb zweier musikalischer Werke Adriana Hölzkys (Bremer Freiheit) und Wolfgang Rihms (Die Eroberung von Mexiko) sich ein neues Geschlechterbild vermittle; Michel Edwards und Nanni Drechsler machten darauf aufmerksam, daß Werkkonzeptionen von Frauen gegenwärtig ganz offensichtlich daran orientiert sind, nicht nur (wie ohnehin schon von Komponisten im Rahmen einer aufklärerisch geprägten Innovationsästhetik praktiziert) Bekanntes und Etabliertes umzustoßen, sondern daß deren Widerständigkeit darauf gerichtet ist, gezielt traditionelle Weiblichkeitsbilder und -metaphern, wie z.B. der Klang der Harfe mit seiner visuellen Assoziation zur zarten, engelsgleichen Weiblichkeit, zu dekonstruieren (Michel Edwards) und durch den Strategien der Postmoderne verwandte, verschmitzt „lachende“ und ironische Kompositionen die „binäre, in Polen und Schaltkreisen sich selbstreferentiell verwirklichende Männerlogik“ zu „verrücken“ und aufzusprengen (Nanni Drechsler).

Macht man sich klar, daß die Theorie der Gender Studies im Grunde auf Theodor W. Adornos These zurückgeht, daß die gesellschaftliche und künstlerische Situation miteinander verwoben seien bzw. Kunst gesellschaftliche Zustände artikuliere, so ist es erstaunlich, daß die Gender Studies insbesondere aus dem angloamerikanischen Raum kommen, wo dieser Philosoph im Gegensatz zum deutschen Sprachgebiet recht spät und eher zurückhaltend rezipiert wurde. Bezeichnend ist es daher auch, daß auf dem Berliner Symposium als erster Alan Stanbridge, ein Kanadier, explizit die Frage aufwarf, wie innerhalb der Lebenswirklichkeit, nicht allein im wissenschaftlichen Bereich, die Machtverhältnisse aktiv geändert werden könnten – eine Frage, die zu großen Teilen die Schlußdiskussion bestimmte. Die kontradiktorischen Thesen von Peter Franklin und Annegret Fauser hierzu waren gleichermaßen plausibel: diejenige von Peter Franklin, nicht im Verborgenen zu agieren, sondern Machtstrukturen im Pakt mit den Mächtigen, d.h. in der Universität mit den Professoren sowie insbesondere außerhalb der Universität im Kulturbereich mittels einflußreicher Persönlichkeiten zu verändern, und diejenige von Annegret Fauser, von unten, sozusagen von den Wurzeln aus, Paradigmen, Prämissen und Bewußtsein zu beeinflussen; die Musikwissenschaftlerin erinnerte an die einst von wenigen Experten verfochtene, mittlerweile vollends etablierte Alte-Musik-Bewegung – und desgleichen ließe sich als weiteres Beispiel die gesamtgesellschaftliche Bedeutung ökologisch-alternativer Bürgerbewegungen anfügen.

Jenseits solcher lebensweltlich relevanten Fragen stellte das studentische Symposium u.a. Alternativen für die wissenschaftliche Entwicklung des Faches vor: Zum einen wurde von den ReferentInnen und TeilnehmerInnen allgemein begrüßt, daß zu jedem Referat über 45 min eine außergewöhnlich große Diskussionszeit (nochmals über 45 min) beigeordnet war, die es erlaubte, die vorgetragenen Thesen und Theoreme zu vertiefen und zu hinterfragen. Zum anderen fiel auf, daß die herkömmlich trockene Atmosphäre wissenschaftlicher Objektivität, die häufig von einem Sinn konstituierenden Erkenntnisinteresse abstrahiert, wohl aufgrund der jede und jeden betreffenden Thematik durch Betroffenheit und Involviertsein aller Beteiligten ersetzt wurde.

Daß sich sowohl unter den Vortragenden als auch im Auditorium eine nicht geringe Anzahl von Männern befand – das Symposium richtete sich explizit an beide Geschlechter – war m.E. auch in anderer Hinsicht äußerst fruchtbar: Es sollte zu denken geben, daß es vor allen Dingen Männer waren, die (zum Teil wichtige) kritische Impulse in die Diskussion einbrachten. So forderte Tobias Plebuch z.B., den Blick von der Opferhaltung der Frauen weg geschlechterübergreifend zu erweitern, schließlich zeigten, so seine Argumentation, sozialgeschichtliche Untersuchungen, daß ganz im Gegenteil zur gängigen Auffassung aus weiblicher Perspektive das Verhalten von Männern gar nicht so selbstbestimmt und eigenmächtig sei, wie immer behauptet, sondern statt dessen von tiefgreifenden existentiellen Zwängen von außen her determiniert würde. In ihrer Einleitung zur Abschlußdiskussion reflektierte Eva Rieger höchst selbstkritisch über die gegenwärtige Situation: Musikgeschichtliche Forschung, die vermeint, allein indem sie vergessene Komponistinnen aufdecke und sammle, eine Änderung des musikalischen Wertekanons zu bewirken, unterliege einem Irrtum; des weiteren klagte sie die von Vorurteilen geprägte Benachteiligung von Frauen aus den Kreisen des eigenen Geschlechts an und wies darauf hin, daß eine Synthese aus historisch-sozial zentrierter feministischer Forschung und musikanalytischer Auseinandersetzung mit Kompositionen – die beiden Schwerpunkte, in die sich Gender Studies herkömmlich spalten – noch nicht geglückt sei.

Die Unterrepräsentation von Frauen im Musikleben nicht nur wissenschaftlich-verbal, sondern auch praktisch zu mindern, waren in das Symposium musikalische Aufführungen integriert. Die junge britische Komponistin Joanne Thomas stellte ihre elektroakustischen Kompositionen vor und schilderte ihre Situation als einzige Komponistin in dieser Fachrichtung an ihrer Universität in Huddersfield/Großbritannien. Ein vom DVSM veranstaltetes öffentliches Konzert im kleinen Saal des Konzerthauses mit dem Violin-Klavierduo Marianne Boettcher und Yuko Tomeda bot Anlaß, nicht nur den Werken von Komponistinnen klangliche Präsenz zu verleihen, sondern zugleich das Gesamtberliner Publikum in die Problematik der Geschlechterverhältnisse für musikalische Werke einzuführen und die in feministischen Kreisen bereits allgemein verbreiteten Erkenntnisse und Überzeugungen damit nach außen zu tragen. Eine Fragebogenaktion, in deren Rahmen die ZuhörerInnen erraten sollten, welchen Geschlechts die Schöpferin bzw. der Schöpfer der gespielten Werke seien, sollte dazu beitragen, die immer wieder gestellte Frage zu klären, ob Frauen anders (respektive schlechter) als Männer komponierten.

Deutlich wurde, daß die Motivation für Männer, Gender Studies zu betreiben, eine andere ist als für Frauen. Ist das Ziel der Frauen in der Regel, durch wissenschaftliche Argumentation gestützt, gegen ihre ästhetisch-kulturelle Abwertung – gibt es doch (angeblich) keine mit den kanonisierten Meistern vergleichbare Frau unter den ohnehin wenigen Komponistinnen – und damit verbunden gegen ihre gesellschaftlich-machtpolitische Diskriminierung anzugehen, die sich in der historisch-kulturellen Ignoranz artikuliert, so liegt der Impetus für Männer, sich mit feministischen Forschungsansätzen auseinanderzusetzen, weniger im Einsatz für die Gleichstellung der Frau als in der Übernahme feministisch verfochtener pluralisierend-liberaler Methodik, um kulturell verdrängte Randgebiete, wie Jazz, Unterhaltungsmusik u.a. zu etablieren. In Anbetracht solcher Unterschiede sind die Warnungen, die von Annegret Fauser, Eva Rieger und Alan Stanbridge immer wieder angebracht wurden, daß nämlich die ursprünglich im Dienste feministischer Anliegen entwickelten Fragestellungen und Methoden der Frauenforschung durch die Männer als endlich wissenschaftlich repräsentationsfähig okkupiert werden könnten und dadurch – das zeigt sich bereits an dem neuen Oberbegriff Gender Studies, nicht Women’s Studies – von den urspünglichen Intentionen abgekoppelt und den Frauen aus den Händen genommen werden könnten, nicht zu unterschätzen.

Beate Kutschke