13. Internationale DVSM-Nachwuchssymposium -„Grenzgänge – Übergänge: Musikwissenschaft im Dialog“

vom 15. bis 18. Oktober 1998 an der JWG-Universität in Frankfurt

Interdisziplinarität, für die einen Schlachtruf und für die anderen Unwort des Jahrzehnts, war das Thema des 13. DVSM Symposiums „Grenzgänge – Übergänge: Musikwissenschaft im Dialog“ an der JWG-Universität in Frankfurt am Main. Schon aus dem „Call for papers“ war ersichtlich, daß auch 1998 eine Reihe neuartiger und kontroverser Themen auf dem Programm stehen würden. Neben dem klassischen Nebeneinander von Musikwissenschaft, Kunstgeschichte und Literaturwissenschaft sollten auch einige ungewöhnliche Grenzgänge zur Sprache kommen, z.B. zwischen Musik und Medizin oder zwischen Musik und Informatik – oder zu Gehör gebracht werden, wie im dem spannenden Eröffnungskonzert „Materialklang – Klangmaterial“ mit dem Komponisten Andreas H. H. Suberg und dem Ensemble „Con Tempo“. Es durfte also von allen dieser Zugänge Interessantes erwartet werden.

Christina Anagostopoulou stellte Sprache und Musik als zwei Systeme menschlicher Kommunikation gegenüber und machte darauf aufmerksam, daß ihre Gemeinsamkeit darin besteht, „bedeutungsvoll“ und „kohärent“ zu sein sowie eine Zeitstruktur zu besitzen. Etwas spekulativ war Gabriela Mayers Zuweisung literarischer Subtexte zu Klavierstücken von Mozart bis Liszt und die daraus folgenden Interpretationen – die alte Problematik musikalischer Hermeneutik kann nicht allein dadurch bewältigt werden, daß neues Vokabular zur Anwendung kommt. Sehr interessantes Material zur Farblichtmusik Alexander Lászlós aus den 20er Jahren präsentierte Jörg Jewanski und machte deutlich, daß Synästhesie ein Thema ist, das noch kaum systematisch erforscht worden ist. Dieses sollte uns auch im weiteren Verlauf des Symposiums noch mehrfach beschäftigen.

Ernst Kreneks Oper „Jonny spielt auf“ ist vor allem aufgrund der provokativen Verwendung von Jazz-Elementen und ihrer späteren Diffamierung als „entartete Kunst“ durch die Nationalsozialisten bekannt. Dementsprechend war es fast ein Tabubruch, wenn Kevin S. Amidon die Konzeption der Oper vor allem im Hinblick auf ökonomische Kriterien reflektierte und gleichzeitig aufzeigte, wie unzulänglich und inadäquat „Jazz“ eigentlich in die Komposition eingeflossen ist. In den Archiven der Opernhäuser fristen alte Modelle von Bühnenbildern meist ein staubiges Dasein. Winfried Kirsch ging der Frage nach, inwiefern die kunsthistorische Interpretation dieser Quellen – oft ja aus der Entstehungszeit der Opern – neue Ansatzpunkte liefern kann und welche Wechselbeziehungen zur Musik ihre Gestaltung erkennen läßt. Die Übertragung von Stil- und Gattungsbezeichnungen aus Kunst oder Literatur auf Musik geschieht oft in wenig reflektierter Weise. Am Beispiel von vier Opern der Jahrhundertwende untersuchte Anita Kolbus, inwiefern von „Symbolismus“ in der Musik die Rede sein kann.

Die musikalische Satzlehre vermittelt uns, daß bestimmten Stilen (z.B. Palestrina oder Bach) üblicherweise ein recht kohärentes Regelwerk zugrundeliegt. Es erfordert jedoch jüngste Erkenntnisse aus Forschungen zur künstlichen Intelligenz, dieses Regelwerk auch von Computern in halbwegs überzeugender Weise umsetzen zu lassen. Dominik Hörnel und Karin Höthker stellten das von ihnen entwickelte System und seine Grundlagen aus Informatik, Musikwissenschaft, Mathematik und Kognitionswissenschaft der Diskussion und der Hörprobe, die übrigens auch im Internet nachvollzogen werden kann:
http://i11www.ira.uta.de/~musik/ (sic!)

Die vielfach vernommene Forderung nach Re-Kontextualisierung musikalischer Werke findet sich in gewisser Weise bereits in dem alten Forschungsparadigma von „Leben und Werk“. Diesem schien jedenfalls Roe-Min Kok in ihrer biographischen Interpretation von Fanny Mendelssohns Liedkompositionen verpflichtet zu sein: „als Ausdruck ihrer eigenen Gefühle und Ängste“. Diese Folgerung – wenn auch auf interdisziplinärer Basis – erscheint für romantische Musik viel zu allgemein. Eine Interdisziplinarität ganz anderer Façon präsentierte Werner Schulze. In „Grundfragen des harmonikalen Denkens“ versuchte er plausibel zu machen, daß der Begriff „Harmonik“ zugleich die Zahl-Grundlagen der Musik als auch die Musik-Grundlagen der Welt repräsentiert. Diese Gedanken als „esoterisch“ zu bezeichnen, muß nicht notwendigerweise pejorativ gemeint sein – allerdings sollte bedacht werden, daß derartige Theorien weite Bereiche der Musik unseres noch-Jahrhunderts kategorisch ausschließen. Dies gilt auch für den Vortrag zu „Modi – Musikalische Archetypen“ von Christian Lehmann, hier wurde auf deren Zusammenhang mit einer Reihe außermusikalischer Kategorien hingewiesen.

Gelegentlich kann auch der Verzicht auf umfassende Theorien der Plausibilität dienen, so in den Vorträgen der Bildhauerin Silya Kiese und des Tanz-Dozenten Armando Menicacci. Erstere präsentierte den Zusammenhang zwischen den Raumstrukturen von Skulpturen und der Musik; letzterer führte praktisch vor, wie aktuelle Theorien zu Musik, Körper und Bewegung in Analyse- und Verstehensmodelle Eingang finden können. Forschungsergebnisse einer ganz anderen Art wurden von Jörg Fachner vorgestellt: „Der musikalische Zeit-Raum, Cannabis, Synästhesie und das Gehirn“. Die visuell sehr gut veranschaulichten EEG-Brainmapping-Untersuchungen zu den psychophysiologischen Effekten des Cannabisrausches bieten eine bislang vernachlässigte Ergänzung zu kulturtheoretischen Deutungen des unter Musikern weit verbreiteten Gebrauchs dieser Droge. Leider erfährt diese technisch und organisatorisch sehr aufwendige Forschung bislang kaum Unterstützung von offizieller Seite.

Nach diesem sehr kaleidoskopischen Bild interdisziplinärer Wissenschaft rief uns der Abschlußvortrag von Wolfgang Marx in Erinnerung, daß ein kompetenter und konstruktiver Umgang mit „Interdisziplinarität“ schon bald zur Überlebensfrage der musikwissenschaftlichen Disziplin selbst werden kann. In Zeiten des „Sterbens“ der kleinen universitären Fächer und ihrer zunehmenden Integration unter dem Dach einer wie auch immer gearteten „Kulturwissenschaft“ nützt es nichts, polemisierend den Kopf in den Sand zu stecken und etwa für eine Rückbesinnung auf die Musik vor 1600 einzutreten, wie es Ludwig Finscher zwei Wochen zuvor beim Eröffnungsvortrag der Konferenz der Gesellschaft für Musikforschung in Halle getan hatte. Statt dessen müssen wir unsere Fachkompetenz gerade in interdisziplinären Ansätzen selbstbewußt vertreten, wodurch vor allem die gesellschaftliche Relevanz der Musikwissenschaft wieder hergestellt werden könnte. Der DVSM wagt mit seinem nächsten Kongreß schon einmal den Schritt in diese Zukunft – er findet vom 6.-9.10.1999 zum Thema „Musik im Spiegel ihrer technologischen Entwicklung“ am Fachbereich „Angewandte Kulturwissenschaften“ der Universität Lüneburg statt.

Abschließend ein Dank und ein Kompliment an das Frankfurter DVSM-Team. Nicht nur ist ein thematisch gut abgerundetes Symposium mit internationalen Beiträgen zustande gekommen, auch die organisatorischen Aufgaben wurden hervorragend erfüllt. In Anbetracht der multimedialen Anforderungen (Beamer, Projektoren, Internetzugang usw.) einiger Referenten war dies keine leichte Aufgabe. Fragt sich nur, wo eigentlich die anderen Frankfurter MuWis geblieben waren – von ihnen sah man auf dem Symposium so gut wie niemanden…

Jan Hemming