Referate des 10. Internationalen Symposions des DVSM e.V. in Hamburg, 1995

Herausgegeben von Thomas Hemker und Daniel Müllensiefen
Hamburg: von Bockel Verlag, 1997
150 S., ca. 4 Abb.,
gebunden, 21 x 14,5 cm
ISBN 3-928770-95-0

Inhalt

Norbert Schläbitz
Medien – Musik – Mensch

Siegfried J. Schmidt
Konstruktivismus als Medientheorie

Rolf Großmann
Konstruktiv(istisch)e Gedanken zur „Medienmusik“

Christian Harnischmacher
Perspektivische Musikdidaktik – Musikpädagogik und Radikaler Konstruktivismus

Carola Böhm
MusicWeb – Neue Kommunikations- und Informationstechnologien für den Unterricht

Guerino Mazzola
Vom RUBATO-Projekt zur ‚Big Science in Musicology‘

Uwe Seifert
Musikwissenschaft in der Wissensgesellschaft

Agentur Bilwet
Die Kunst der Fuge

Vorwort der Herausgeber

effeminate, adj. 1. weichlich, verweichlicht
2. unmännlich, weibisch (Langenscheidts Handwörterbuch Englisch, Berlin u.a. 1995)

effeminiert, verweichlicht, weiblich in seinen Empfindungen u. seinem Verhalten (in bezug auf einen Mann gesagt) (Duden Fremdwörterlexikon, Mannheim u.a. 1986)
„Was gut ist, setzt sich durch“ – der darwinistische Grundsatz hat wieder Konjunktur und bestimmt – offen oder verdeckt – in zunehmendem Maße das Geschehen etwa in der Werbung, im Berufsleben, im Konzertbetrieb oder in der Wissenschaft. So ist zu hören, es interessiere nicht, ob eine Musik von einem Mann oder einer Frau komponiert oder gespielt werde, entscheidend sei allein ihre Qualität. Ein anderes Beispiel ist die Rede von der „Scientific Community“. Im Bereich der Wissenschaft wird darauf vertraut, daß bestimmte Theorien oder Methoden schon ihren Stellenwert erlangen würden, wenn sie ihn denn verdienten. Diejenigen, die aber bisweilen die ausgetretenen Pfade der akademischen Musikwissenschaft und der von ihr bevorzugten Musik verlassen, müssen vielfach die Erfahrung machen, daß die Praxis im Konzertbetrieb wie auch in der Universität anders funktioniert, daß hier Auswahlmechanismen und Machtstrukturen bestimmend sein können, die mit der vielbeschworenen „Sache“ nicht mehr viel gemein haben. Der „Dachverband der Studierenden der Musikwissenschaft (DVSM e.V.)“ hat es sich zur Aufgabe gemacht, die daraus resultierenden Defizite aufzuarbeiten und ihnen durch jährlich stattfindende Kongresse und regelmäßige Publikationen ein Forum zu bieten.

Einerseits war es somit konsequent, andererseits aber zugleich erstaunlich, daß sich eine Gruppe von Studierenden Anfang 1995 darauf verständigte, im Herbst 1996 an der Humboldt-Universität einen Kongreß zum Thema „Gender Studies – Geschlechterrollen und ihre Bedeutung für die Musikwissenschaft“ zu veranstalten. Ein Semester zuvor war nämlich ein Seminar zur „Feministischen Musikwissenschaft“ mangels Teilnehmerinnen und Teilnehmern nicht zustande gekommen…

Die „Mitgift“ der Gender Studies ist ihre Geschichte: die Herkunft aus dem soziopolitischen Engagement für die Gleichstellung der Frau – auch im wissenschaftlichen Bereich – sowie die damit verbundene dezidiert feministische Perspektive. „Gender Studies“ – ein Begriff, der kaum adäquat ins Deutsche zu übertragen ist – erheben zugleich aber den Anspruch, nicht nur die Frage der Frauen, sondern als Teilgebiet der „Cultural Studies“ einen breiteren Personenkreis (Frauen und Männer, Ethnien und Religionen sowie sexuelle Orientierungen) der wissenschaftlichen Betrachtung zu unterziehen. Das ursprüngliche Ziel einer Gleichstellung von Frauen in allen Bereichen von Wissenschaft, Kultur und Gesellschaft droht in Vergessenheit zu geraten. „Gender Studies“ – auch für Männer?

Der Kongreß und die vorliegende Publikation bewegen sich in genau diesem Spannungsverhältnis zwischen ursprünglicher feministischer Zielsetzung und dem Bedürfnis nach wissenschaftlicher öffnung: drei weibliche und fünf männliche Organisatorinnen und Organisatoren, eine Herausgeberin und zwei Herausgeber, fünf männliche und dreizehn weibliche Autorinnen und Autoren. Und obwohl wir in allen Ankündigungen ausdrücklich darauf hingewiesen hatten, daß unser Symposium „von Frauen und Männern für Männer und Frauen“ konzipiert war, wurden wir ein Stück weit mißverstanden, wenn z.B. die Ankündigung des Kongresses im „Frauenfunk“ oder in den „Frauen“-Sparten der Printmedien erfolgte. Einer der wichtigsten Ausgangspunkte für die Gender Studies ist die Entdeckung, daß emanzipatorische Bemühungen von Anfang an zum Scheitern verurteilt sind, wenn die Grundpfeiler der Geschlechtszuschreibungen unbewußt oder unbemerkt gepflegt und erneuert werden. Dies kann durch die Sprache selbst geschehen, wenn wie oben angegeben das Fremdwort für „weiblich“ in unseren Lexika mit „verweichlicht“ übertragen wird. Aber auch in der Musik werden geschlechtsspezifische Zuweisungen vorgenommen. Auf der deutschen Email-Diskussionsliste „MuWi@“ entbrannte vor einiger Zeit eine Diskussion um die Frage, ob ein Dirigent dem Orchester die Anweisung erteilen dürfe, eine bestimmte Stelle „männlich bestimmt“ zu spielen. Nun sind wir als Musikerinnen und Musiker, die in der westlichen Zivilisation sozialisiert sind, in der mißlichen Lage, durchaus eine Vorstellung davon zu haben, was der Dirigent meint. Indem wir diese jedoch stillschweigend akzeptieren, tragen wir dazu bei, derartig fragwürdige Bedeutungszuweisungen zu erhalten und fortzuschreiben. Der Gedanke „weiblich unbestimmt“ ist darin unbewußt mit enthalten.

Dies konnte auch während eines Konzertes im Rahmen des Symposiums beobachtet werden. Marianne Boettcher und Yuko Tomeda spielten vier Kompositionen für Violine und Klavier aus dem 19. Jahrhundert (Johannes Brahms, Robert Schumann, Luise Adolpha Le Beau und Clara Schumann). Die Reihenfolge der Stücke bzw. die Namen der Komponistinnen und Komponisten wurden erst am Ende bekanntgegeben. Im Publikum befanden sich zum größten Teil Kongreßteilnehmerinnen und -teilnehmer, die einfachen geschlechtsspezifischen Zuweisungen eher kritisch gegenüberstehen und die sich im Prinzip darüber im Klaren sind, daß das Geschlecht des „komponierenden Subjekts“ nicht herausgehört werden kann. Dennoch zeigten die anschließenden Reaktionen, daß sich kaum jemand traditionellen geschlechtsspezifischen Zuweisungen beim Hören entziehen konnte. Die Frage, welche der Kompositionen denn nun von Frauen und welche von Männern stammen, wurde auch anhand von Kategorien wie „weich“, „ruhig“, „ausgeglichen“ usw. diskutiert. Entscheidende methodische Impulse haben Gender Studies aus Theorieansätzen der Dekonstruktion, des Poststrukturalismus oder aus den Analysen von Machtstrukturen durch Michel Foucault erhalten. Zudem wurde die kritische Theorie der Frankfurter Schule und die Philosophie Theodor W. Adornos von angloamerikanischen Kulturwissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern in den 80er und 90er Jahren neu gelesen, was weitere Perspektiven eröffnete. Bezogen auf Musik setzt dies zuerst voraus, Musik nicht – gemäß der auch noch im 20. Jahrhundert dominierenden Auffassung – als autonomes Phänomen zu begreifen, sondern sich der engen Verflechtung außermusikalisch-soziologischer Umstände mit dem innermusikalischen Geschehen bewußt zu werden. Musikwissenschaft widmet sich somit nicht mehr der Wertschätzung und Profilierung des einzelnen musikalischen Kunstwerkes; sie wird zu einem Teilgebiet der Kulturwissenschaft, die kulturelle Produkte als Symbole und Indikatoren für kulturelle Verfassungen betrachtet. Eine solche Forschung ist keine vorgeblich objektive Näherung an einen Forschungsgegenstand, sie ist auch subjektiver Akt, der – ausgesprochen oder nicht – die Frage miteinschließt: „Was ist mein Erkenntnisinteresse und wem gebe ich meine Stimme?“

Um dieser Problematik gerecht zu werden und den erwähnten Vorbehalten nicht selbst zu erliegen, haben wir bei der Zusammenstellung des Kongreßprogramms ein in Nordamerika übliches Verfahren benutzt und alle Einsendungen auf unseren Call for Papers anonym ausgewertet. So konnten wir uns bei der thematischen Schwerpunktsetzung zumindest theoretisch ganz auf die Inhalte konzentrieren. Neben der Frage „Professorin oder Studentin?“ war auch hier die überlegung „Mann oder Frau?“ – ob bewußt oder unbewußt – eine Dimension bei der Diskussion.

Der vorliegende Band enthält – von wenigen Ausnahmen abgesehen – die einzelnen Kongreßbeiträge und bietet so eine Zusammenfassung verschiedener Aspekte, mit denen sich Gender Studies & Musik hierzulande beschäftigen. Zugleich wird die Verbindung zum internationalen Stand der Forschung im angloamerikanischen Raum hergestellt. Ein Blick auf die siebzehn Texte offenbart eine große thematische Vielfalt – ein Hinweis darauf, daß sich Gender Studies als interdisziplinäres Forschungsfeld eher durch das Erkenntnisinteresse als durch gemeinsame Forschungsgegenstände definieren. Einige Aufsätze widmen sich primär der Quellen- und Spurensuche. Hier wird kaum bekanntes Material aufgearbeitet und zugänglich gemacht, das gleichermaßen aus historischen wie gegenwärtigen Phänomenen hervorgehen kann. Andere Aufsätze beschäftigen sich hingegen mit mehr oder weniger bekannten Sachverhalten und konfrontieren sie mit konkreten geschlechtsspezifischen Fragen. Mitunter sind die Interpretationen subjektiv und gewagt, wollen kontrovers sein und zum Widerspruch herausfordern.

Unser Dank gilt dem Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Technologie (BMBF), der Senatsverwaltung für Arbeit und Frauen Berlin, sowie dem RefRat und der Fachschaft Musikwissenschaft der Humboldt-Universität zu Berlin, die durch finanzielle Unterstützung das Zustandekommen des Symposiums und der Publikation ermöglichten. Ebenso bedanken wir uns bei der GEDOK Berlin für die Kooperation, bei Angela van Dyck für die Gestaltung des Titelbildes, bei Marianne Boettcher und Yuko Tomeda für das Konzert, bei Tobias Rapp für die Hilfe bei der Umbruch- und Layoutkorrektur sowie bei der Erstellung des Personenregisters, und bei allen, die auf unseren Call for Papers hin Abstracts eingereicht haben. An der Humboldt-Universität zu Berlin haben uns das Seminar für Musikwissenschaft und das Zentrum für interdisziplinäre Frauenforschung unterstützt. Für ihr Engagement und ihre Hilfsbereitschaft danken wir insbesondere Wolfgang Auhagen, Constantin Alex, Ingolf Haedicke, Gabriele Jähnert und Anne-Kathrin Blankschein.

Die Herausgebenden Berlin, im August 1998